Sinfonie Nr. 4 e-Moll op. 98

1. Satz Allegro non troppo
2. Satz Andante moderato
3. Satz Allegro giocoso
4. Satz Allegro energico e passionato

In Bergs Geburtsjahr 1885 wurde die vierte Sinfonie von Johannes Brahms uraufgeführt. Sie setzt den Schlusspunkt hinter Brahms sinfonischem Schaffen und bildet zugleich eine große Zusammenfassung seiner formalen Technik. Bei aller inhaltlichen Dichte wirkt das Stück in sich vollkommen ausgewogen und gebündelt, auf das Wesentliche reduziert Die vier Sätze sind jeweils völlig eigenständig, unterschiedlich und fügen sich doch zu einem großen Ganzen. Die abschließende Passacaglia – ein Satz, der in der gesamten sinfonischen Literatur seinesgleichen sucht – wirkt geradezu wie ein Symbol dieser formalen Straffheit. Inhaltlich überwiegt über weite Teile ein großer Ernst. Brahms spricht in Briefen an mehreren Stellen von „Kirschen, die sauer sind“ und verharmlost damit in charakteristischer Weise den eigentlichen Gefühlsgehalt. Tatsache ist, dass die Musik sehr leidenschaftlich und mit Ausnahme des dritten Satzes ernst ist.

Dazu passt, dass das Stück gleich mit einem fallenden Terzmotiv anhebt und im ersten Thema immer zwischen Aufschwung und Niederschlag wechselt. Der Seitensatz in den Holzbläsern ist grazilerer Natur als die mitunter wuchtigen Tutti und rhythmischen Verdichtungen. Höhepunkt des Satzes ist die mitreißende Coda, in der Brahms eine außergewöhnliche motivische Konzentration erreicht. Die Spannung baut sich stetig auf, bis die Pauke mit ihren vier abschließenden Schlägen dem Satz ein Ende macht. „Phrygisch“ beginnt das folgende Andante. Die kleine Sekunde am Anfang passt gar nicht in das vorherrschende E-Dur, zeugt aber von Brahms Vorliebe für modale kirchentonale Wendungen, die auch aus der Musik eines Schütz stammen könnten. (Brahms hat Werke dieses Altmeisters geschätzt und herausgegeben.) In einem Folgethema werden sehr schön Duolen gegen Triolen ausgespielt, was ein Charakteristikum von Brahms Stil ist. Die lautstarke Verarbeitung des Hauptthemas am Höhepunkt stellt Streicher gegen Bläser und löst sich in einem versöhnlichen, choralartigen Streichersatz auf. Am Ende stellen zwei Klarinetten über unsicherem Grund noch einmal eine unbeantwortete Frage. Der phrygische Schluss (!) von F-Dur nach E-Dur zieht die Konsequenz aus dem Anfangsthema. „Giocoso“ meint so viel wie „ausgelassen“ oder „fröhlich“. Und tatsächlich gibt sich der dritte Satz für Brahms ungewöhnlich froh und tänzerisch. Richtige und falsche Betonungen setzen vielfältige Akzente. Ein kurzes rhythmisches Motiv aus zwei Sechzehntel- und einer Achtelnote erhält thematisches Gewicht. Das Trio ist nur angedeutet, gleich kehrt der Giocoso-Gedanke wieder. Der Satz wirkt wie ein letztmalige Unbeschwertheit, bevor die ehernen Akkorde der Passacaglia anheben. Dies ist eine ursprünglich barocke Kunst, die beispielsweise J.S. Bach virtuos beherrschte (wie etwa in der berühmten Orgelpassacaglia). Bei Brahms wird diese Variationstechnik aber noch zusätzlich mit der Sinfonie verbunden. Die einprägsamen acht Akkorde – am Ende wiederum mit der phrygischen Sekund im Bass – bilden das harmonische Gerüst, das dem gesamten Satz zugrunde liegt. Sie bleiben immer spürbar. Darüber gestaltet 32 ungemein fantasiereiche Variationen, die das Thema in entlegenste Ausdrucksbezirke führt. Herausragend ist etwa die Flötenvariation vor der Reprise, die plötzlich nach Dur und zu den Posaunen führt – ein kurzes Innehalten, bevor der Sturm erneut anhebt. Dass es Brahms gelingt, diese durch all diese unterschiedlichen Variationen einen sinfonischen „Zug“ zu legen, ist vielleicht das größte Wunder an diesem ungeheuren Schlusssatz. Einem kleineren Meister wäre die große Linie an der kleinteiligen Anlage womöglich zerbrochen. Brahms formaler Instinkt scheint sich an der Schwierigkeit der Aufgabe aber geradezu angestachelt zu haben. Eine Temposteigerung läutet am Ende einen relativ abrupten Abschluss ein. Auf einen versöhnlichen Ausklang wartet man vergeblich.