Sinfonie Nr. 7 in h-Moll D 759 „Unvollendete“ II

1. Satz Allegro moderato
2. Satz Andante con moto

Beinamen versuchen, das Charakteristische einer Sinfonie in einem einzelnen Wort festzuschreiben: Man denke an Beethovens „Eroica“, Bruckners „Romantische“ oder Mahlers „Tragische“. Im Fall von Schuberts „Unvollendeter“ bezieht sich der Zusatz auf die Tatsache ihrer ausnahmsweisen „Zweisätzigkeit“. Damit ist inhaltlich aber noch nichts gesagt. Denn Schubert schrieb hier eine so tiefschürfende Orchestermusik wie nie zuvor, sodass man umgekehrt fragen könnte: Wie hätten denn die krisenhaften Zustände, die er in Klang verwandelte, die übliche viersätzige Form nicht aufbrechen können? Wie hätte hier ein Tanzsatz und ein Finale mit versöhnlichem Durschluss anschließen sollen? Das wäre ja gar nicht gegangen. Meine These ist vielmehr, dass Schubert das Werk nicht „vollenden“ konnte, weil nur dieses Unvollendet-Sein der ideale Abdruck jener Krisenhaftigkeit war, die Schubert zur Entstehungszeit 1822 körperlich und seelisch befallen hatte. Erst dass die „Unvollendete“ unvollendet blieb, verleiht ihr ihren außergewöhnlichen Grad an Vollendung…

Sieht man sich musikalische Einzelheiten an, dann erschüttert die Spannweite verschiedenartiger existenzieller Zustände. Der Unterschied zwischen dem abgrundtief schwarzen Beginn und dem ätherischen Ende ist so groß wie der Abstand zwischen Hölle und Himmel in Dantes „Göttlicher Komödie“. Gegensätze prallen hart aufeinander, Entwicklungen brechen ansatzlos ab; ja es erscheint fast wie ein Grundgesetz, dass jedes Mal, wenn die Musik sich mühsam eines Albdrucks entledigt hat, ein umso niederschmetternderer Kontrast folgt. Den Höhepunkt der Dramatik im ersten Satz markieren die Posaunen mit dem Zitat des düsteren Anfangsmotivs in voller Lautstärke. Der zweite Satz ist in helleres Licht getaucht. Aber ist dieses Licht denn real? Wirkt es nicht eher so, als ob sich hier jemand etwas Helles nur herbeisehnt, eine Erinnerung heraufbeschwört und die Vision einer Hoffnung entwickelt, von der er selber weiß, dass sie nie eintreffen wird? Ist dieser zweite Satz nicht die Kehrseite des ersten? Die verloren wirkende Klarinettenmelodie im Seitensatz und das heftige cis-Moll Tutti scheinen solches anzudeuten.

In diesem Zusammenhang sei noch ein Wort zu den vielen „Seufzern“ der Unvollendeten erlaubt: Die fallenden Sekundschritte sind weit entfernt vom Topos des romantischen „Sehnsuchtsmotivs“, sie haben auch überhaupt nichts mit den bekannten „Liebesseufzern“ zu tun. Die Seufzer der „Unvollendeten“ drücken etwas ganz Anderes aus: Sie sind Schmerzenslaute eines Menschen, der im Fieber deliriert und vor Qual aufstöhnt. Weder vor noch nach Schubert sind pathologische Zustände derart drastisch in Musik gesetzt worden.