Zum 100. Geburtstag

„Zwischen Leidenschaft und Melancholie –
Die musikalische Welt des Astor Piazzolla“


Tango ist kein Tanz, Tango ist eine Lebenshaltung – zumindest für die Argentinier. Für ein Volk, dem das Tanzen in die Wiege gelegt zu sein scheint, ist der Tango alles: Bewegungskunst, Weltanschauung, Ausdrucksform, Identität. Hier schweben Körper nach magischem Gesetz, hier zeichnen Seelen ihre Spur in die Sichtbarkeit. Ist es übertrieben zu behaupten, dass der kraftvolle, gemessene Tango für die argentinische Gesellschaft die Bedeutung eines „tragenden Grundes“ besitzt? Oder sitzen wir Europäer hier einem von Film und Kino befeuerten Cliché auf? Durchaus ist der Tango nicht nur ein Spiegel für den Stolz und das Temperament des Südamerikaners. Auch dessen Verzweiflung, seine Wut und seine Angst finden sich darin. Der Tango kann wie ein Anrennen gegen die Fesseln und Grenzen des Daseins sein, wenn sich die Tänzer dem Geist von Spannen und Lösen, von Vor und Zurück, von Führen und Folgen in beinahe ritueller Form hingeben…

Als Tanz ist der Tango eine wahrhafte Kunstform. Was aber ist mit der Tangomusik? Werden hier nicht „niedere Sphären“ von Unterhaltungsmusik berührt, die in einem klassischen Konzertsaal nichts verloren haben? Wie viele Elemente aus Filmmusik und Jazz dürfen die sogenannte klassische Musik „überfluten“?

In diesem stilistischen Dilemma steckte Zeit seines Lebens der wohl berühmteste Komponist von Tangomusik, der vor genau 100 Jahre geborene Astor Piazzolla. Er war es, der den Tango als europäisches Kunstverständnis und südamerikanisches Lebensgefühl verbindende Musikgattung etablierte. Diese Überbrückung der Kontinente war bereits in Piazzollas Lebensweg vorgezeichnet. Er, der Nachfahre italienischer Einwanderer, verließ im Alter von vier Jahren seine Geburtsstadt Buenos Aires mit den Eltern in Richtung New York und es wird wohl auch Nostalgie und Heimweh mitgespielt haben, dass er dort Unterricht auf dem argentinischen Nationalinstrument Bandoneon erhielt. Nach der Rückkehr fand der junge Piazzolla schnell Anschluss bei argentinischen Tangomusikern. Um sich aber musikalisch solide ausbilden zu lassen, nahm er parallel Kompositionsunterricht bei dem kaum älteren Alberto Ginastera. Trotz großer Erfolge mit seinem eigenen Tangoorchester wollte Piazzolla nicht darauf beschränkt bleiben. Er liebte klassische Musik – vor allem Bach -, strebte eine europäische Ausbildung an und versuchte, als „seriöser“ Komponist wahrgenommen werden. 1954 studierte er dann tatsächlich in Europa bei der berühmten Nadia Boulanger in Paris. Doch anders als erwartet riet ihm die erfahrene Pädagogin von einem rein klassischen Weg ab und bestärkte ihn stattdessen, seinen Wurzeln treu zu bleiben. Im Tango, dort sei der wahre Piazzolla zu finden. Und tatsächlich sollte er dort unverwechselbar und weltberühmt werden. Seinen 300 Tangokompositionen verdankt er es, dass er als einer der Großen in die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen ist.