Werkbesprechungen

Enigma Variationen op. 36

Edward Elgar wurde als Sohn eines Musikalienhändlers und Organisten in dem kleinen englischen Städtchen Broadheath im Landkreis Worcestershire geboren. Er spielte in seiner Jugend rasch einige Instrumente und gab auf dem Fagott und der Violine später sogar Unterricht. Als Komponist blieb Elgar Autodidakt. Er brachte es mit Sinfonien, Oratorien und nicht zuletzt mit den 1899 uraufgeführten Enigma-Variationen aber dennoch zu dem Ruf, der bedeutendste englische Komponist nach Henry Purcell zu sein. 1904 wurde Elgar zum Ritter geschlagen und 1931 zum „Baronet of Broadheath“ geadelt.

Elgars Vorbilder sind in der deutschen Musik zu suchen: Felix Mendelssohn-Bartholdy, Robert Schumann, Johannes Brahms, Richard Strauss – um nur vier Kollegen zu nennen. Für seine solide Handwerklichkeit berühmt wurde Elgar mitunter sogar als „englischer Brahms“ gehandelt und tatsächlich erinnert die Faktur seiner Enigma-Variationen an Brahms Haydn-Variationen. Der Titel „Enigma“ (Rätsel) deutet auf eine verborgene Bedeutungsebene dieser 14 Variationen hin. Das drückt sich unter anderem dadurch aus, dass Elgar einzelne Sätze mit Abkürzungen aus drei Buchstaben betitelte. Diese Überschriften sind aus den Initialen von Personen aus Elgars Umkreis abgeleitet, ohne dass der Komponist direkt verraten hätte, wem diese musikalischen Porträts gelten. Heute weiß man, dass es neben Elgars Frau Alice, auf deren Anregung das Werk entstanden ist, vor allem befreundete Amateurmusiker sind. Musikalisch hat Elgar diese Porträtskizzen geschickt dadurch verbunden, dass er ihnen ein gemeinsames – diatonisches – Thema zugrunde legt, das wir gleich am Anfang hören. Inhaltlich orientiert sich der Ausdruck der darüber erfundenen Variationen am jeweiligen Charakter der Porträtierten: So erscheinen der extrovertierte und Türen knallende Gutsherr William Meath Baker in der vierten, die phlegmatische Bratschistin Isabell Fitton in der sechsten Variation. Einer der berühmtesten Teile des Zyklus ist die neunte Variation „Nimrod“. Der Titel geht auf eine orientalische Legende von Nimrod, einem „gewaltigen Jäger vor dem Herrn“ zurück und spielt auf Elgars Freund August Jaeger an – ein Wortspiel ganz in Elgars Sinn. Die Musik selbst hat mit Jagd überhaupt nichts zu tun, sondern ist schwebend und tief empfunden. Hübsch und kennzeichnend für Elgars kryptische Persönlichkeit ist auch die 13. Variation, die in einem Zitat aus Mendelssohns Ouvertüre „Meeresstille und glückliche Fahrt“ auf eine „Dame“ anspielte, die zur Kompositionszeit auf Seereise war. Bis heute weiß man nicht genau, wer diese Abgebildete eigentlich ist…

Zu vordergründig sollte man diese biographischen Bezüge aber wohl nicht auffassen. Da wir Elgars leibhaftige Inspirationsquellen ja nicht kennen, bringt uns diese Spurensuche im Nebulösen wohl nicht wirklich weiter. Elgar hätte seine Vorbilder ja nicht verschwiegen, wenn er den Enigma-Variationen nicht die Kraft zugetraut hätte, auch als „absolute Musik“ ohne Enträtselung der Vorlagen verstanden zu werden. Mag der Anlass zur Komposition auch mehr oder minder banal und zufällig gewesen sein, was künstlerisch daraus entstand, beansprucht eine Allgemeingültigkeit, die über die Biographie des Komponisten hinausgeht. So gesehen ist die Entstehungsgeschichte der Enigma-Variationen zu einem „Enigma“ der anderen Art: Es ist eine rätselhafte Tatsache, wie in der Kunst der „Zufall“ dem Künstler schicksalhaft unter die Arme greifen und das Kunstwerk auf eigentlich unbegreifliche Art hervorrufen kann.