Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 in b-Moll op. 23

1.Satz Allegro non troppo e molto maestoso
2.Satz Andantino semplice
3.Satz Allegro con fuoco

Als Mitarbeiter des russischen Justizministeriums hatte der junge Tschaikowski seine musikalische Ader zunächst nur nebenbei gepflegt. Erst mit Anfang 20 entschloss er sich zu einer fundierten Ausbildung in Musiktheorie und Komposition. Sein Gönner während dieser künstlerischen Selbstfindung war der Pianist Nikolai Rubinstein. Er nahm den jungen Mann unter seine Fittiche und unterstützte ihn nach Kräften. Wie schmerzhaft muss es für den sensiblen Komponisten aber gewesen sein, als eben dieser Freund und Förderer das 1874 entstandene Klavierkonzert vernichtend kritisierte! Trotzdem unterließ Tschaikowski die von Rubinstein vorgeschlagenen Änderungen und schickte die Partitur stattdessen an den Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow. Dieser führte das Werk ein Jahr darauf zu einem so überragenden Erfolg in Boston (!), dass Rubinstein seine Meinung revidierte und dem Klavierkonzert als Solist auch in Europa zu seinem Siegeszug verhalf. Was Rubinstein gestört haben mag, war möglicherweise die überbordende Emphase, die der Komponist ungebremst in das Werk einfließen ließ. Zu „unzusammenhängend“ sei in Rubinsteins Augen das Ganze. Tatsache ist, dass sich Tschaikowski für seinen Gefühlsüberschwang keine formalen Fesseln auferlegt hat. Der erste Satz nimmt mit beinahe 23 Minuten Länge allein die Hälfte des gesamten Werkes ein. Das störte die Zuhörer aber nicht. Im Gegenteil, der neue kraft- und gefühlvolle Ton kam beim Publikum ungemein gut an.

Nach dem markanten Dreiklangsabstieg in den Hörnern erhebt sich eine elegante Melodie gleichsam „mit erhobenem Kopf“. Sie wird vom Klavier zuerst untermalt und dann aufgegriffen und fortgesponnen – ein überwältigender Beginn und einer der größten Würfe Tschaikowskis überhaupt. Eine Triolenpassage heizt das rhythmische Leben rasch an. Aus einem choralartigen Holzbläsersatz wächst ein einfaches Volkliedthema. Dialogische Prinzipien zwischen Solo und Orchester bestimmen im Wechsel immer wieder das Geschehen. Nach einer großen Steigerung bleibt das Klavier nachdenklich mit der Solokadenz zurück. Das zweite Thema führt darauf den Satz in großer Steigerung zum Ende. Das folgende Andantino eröffnen klangvolle Pizzicato-Akkorde, darüber eine getragene Flötenmelodie. Über Bordunquinten in den Fagotten setzt bald auch eine leichte Tanzbewegung ein. Nach einer Solocello-Episode folgt ein Tempowechsel zum bewegteren Mittelteil über das damals bekannte Lied „Il faut s’amuser, danser et rire“ („Man muss sich vergnügen, tanzen und lachen“). Am Satzende kehrt der getragene Sehnsuchtsgedanke vom Anfang wieder, wobei die Klarinette mit ihrem fallenden Tritonus ein gewichtiges Wörtlein mitzureden hat. Der finale Rondosatz verwendet Motive aus ukrainischen Volkstänzen. Das gleichsam selbst „im Sprunge“ befindliche Hauptthema wechselt sich mit mehreren Zwischenteilen ab, unter denen eine mehrmals wiederkehrende elegische Streichermelodie und ein punktiertes Motiv die größte Rolle spielen. Der Klaviersatz ist mit vielen rasenden Begleitsechzehntel hochvirtuos gestaltet. Nachdem sich das Geigenthema noch einmal aufgeschwungen hat, leitet das Soloinstrument mit donnernden Oktaven die in eine Stretta mündende Schlusssteigerung ein.

Tschaikowskis erstes Klavierkonzert ist eines der prominentesten Beispiele für das Pathos der romantischen, zumal russischen Konzertliteratur. Die Raffinesse und Sorgfalt aber, mit der der Komponist darin seine Gedanken und Gefühle formuliert, hebt das Werk meilenweit über vergleichbare, parallel entstandene „Effektstücke“ anderer Tonsetzer hinaus. Dass das große Eröffnungsthema von Film und Fernsehen missbraucht wurde, hat diese Musik in ein völlig falsches „sentimentales Eck“ gerückt. Die vielen leisen Töne und nicht zuletzt der akribisch ausgetüftelte Klaviersatz beweisen dem gegenüber aber die künstlerische Lauterkeit des Komponisten, dem es weniger um Glanz und Effekt als um Tiefe und Ausdruck gegangen sein mag.