Le Boeuf sur le Toit – „Der Ochse auf dem Dach“ op. 58

Darius Milhaud gehörte zur einflussreichen französischen Künstlerbund „Les Six“. Diese Komponistengruppe um Arthur Honegger, Francis Poulenc, Germaine Tailleferre – der einzigen Frau in diesem Kreis werden wir im Sinfoniekonzert am 19. Oktober wieder begegnen -, George Auric, Louis Durey und eben Milhaud selbst wendete sich unter dem Einfluss von Eric Satie von Wagner wie auch von Debussy ab und orientierte sich wieder am klassischen Stil, den sie jedoch frech mit Stilelementen der Unterhaltungsmusik würzte. Als Attaché von Paul Claudel ging der Zeit seines Lebens an den Rollstuhl gefesselte Milhaud 1916 an die französische Botschaft in Rio de Janeiro. Die dortige Begegnung mit der brasilianischen Volksmusik beeinflusste nach seiner Rückkehr jedoch auch weiterhin seine Komponierweise. So verwendet er beispielsweise in dem 1920 als Ballettpantomime uraufgeführten Orchesterstück „Le Boeuf sur le Toit“ südamerikanische Folklore. Eigentlich stellte sich Milhaud diese „Kinofantasie“ über das Volkslied „Ein Ochse auf dem Dach“ als Musik zu einem Chaplin-Film vor. Die von Jean Cocteau erfundene Handlung verlegte die Szene in eine Bar zur Zeit des amerikanischen Alkoholverbots – mit allen möglichen und unmöglichen surrealen Verwicklungen.

Formal ist Milhauds Stück als freies Rondo aufgebaut. Ein impulsives Anfangsthema in Streichern und Trompete kehrt als verbindende Klammer immer wieder. Dazwischen wird es mehrmals von elegischen Oboensoli abgelöst. Später übernehmen auch andere Soloinstrumente wie Piccolo die Führung. Das Schlagzeug setzt wirkungsvolle Akzente. Rhythmisch und melodisch trägt der Orchestersatz ein deutlich brasilianisches Gepräge. Harmonisch gesehen weist das Stück eine Spezialität von Milhaud auf, die sogenannte „Polytonalität“. Damit meint man die Verwendung unterschiedlicher Tonarten zur gleichen Zeit. Vielleicht könnte man diese Überlagerung mit Picassos Verfahren vergleichen, in seinen Bildern Vorder- und Rückansicht desselben Objekts gleichzeitig zu zeigen. In „Le Boeuf sur le Toit“ werden diese verschiedenen Ebenen durch Milhauds wirkungsvolle Instrumentation und die zündenden Rhythmen zusammengehalten.