Werkbesprechungen

Scheherazade – Sinfonische Suite op. 35

1. Satz Largo e maestoso-Allegro non troppo
2. Satz Lento-Andantino-Allegro molto-Con moto
3. Satz Andantino quasi allegretto—Pochissimo più mosso—Come prima—Pochissimo più animato
4. Satz Allegro molto—Vivo—Allegro non troppo maestoso

Nikolai Rimski-Korsakow war ein Vertreter der als „Mächtiges Häuflein“ in die Musikgeschichte eingegangenen Komponistengruppe. Diese hatte sich eine betont nationalrussische Ästhetik auf die Fahnen geheftet und Rimski fungierte als ihr einflussreicher Lehrer und Anreger. Selbstlos nahm der hochqualifizierte Pädagoge sich der zum Teil unausgegorenen Arbeiten seiner Kollegen an. 1888 ließ sich der ehemalige Marineoffizier von der Geschichtensammlung „Tausendundeine Nacht“ aber zu seinem eigenen sinfonischen Hauptwerk „Scheherazade“ inspirieren. Dabei handelt es sich um eine viersätzige Programmsinfonie mit konzertierenden Einschüben der Solovioline. Inhaltlich haben wir es dabei mit einer Rahmenhandlung zu tun, in die vier, musikalisch sehr unterschiedlich gestaltete Geschichten eingebettet sind. Ein von seiner Frau betrogener König vermeidet weitere Enttäuschungen durch den ebenso einfachen wie wirkungsvollen Kunstgriff, alle Geliebten nach der ersten Nacht enthaupten zu lassen. Die Tochter des Wesirs, Scheherazade, will dieses brutale Morden beenden und lässt sich dem König ebenfalls als Frau zuführen. Die Absicht des klugen Mädchens ist es, den König mit ihren Erzählungen derart zu fesseln, dass er von seinem Vorsatz ablässt, um den Fortgang der Geschichten zu erfahren. Musikalisch ist diese Rahmenhandlung ganz auf den Gegensatz zwischen dem weiblich-einfühlsamen Scheherazade-Thema und dem männlich-brutalen Schachria-Thema aufgebaut. Genial ist, wie Rimski-Korsakov diese Themen moduliert, um unterschiedliche Gefühlsregungen auszudrücken, sei es die Furcht vor dem blutrünstigen Mann, das Mitleid mit einem verletzten Menschen oder schließlich die Liebe zu einem neugewonnenen Gemahl. Aus Schachrias Wutausbruch zu Beginn des Stückes spüren wir sofort, dass von diesem Menschen reale Gefahr ausgeht. Scheherazades Zauber lässt diesen Rauch aber schnell verfliegen. Ihre erste Geschichte handelt vom Meer und Sinbad, dem tapferen Seefahrer. In weiten Wellen schwingen sich die Celli ein, das erhabene Thema, das sich dann darüberlegt, ist nichts Anderes als das ins Edle und Vornehme gewendete Königsmotiv. Durch diesen Kniff identifiziert die Erzählerin den König indirekt mit dem mythischen Seefahrer und huldigt damit zugleich seinem Stolz. Im Seitensatz springt uns plötzlich Scheherazades eigenes Thema in den ersten Geigen an. Beide Motive vereinigen sich. Brillant, wie Rimski-Korsakov die Bewegtheit des Meeres als Spiegel menschlicher Leidenschaften verwendet!

Der zweite Satz erzählt die Geschichte eines gewissen Prinzen Kalender, einem unsteten, wohl Till Eulenspiegel verwandten Geist. Nach der obligaten Soloeinleitung im Sinne des „Es war einmal“ haben zuerst die Holzbläser-Soli das Wort. Das Geschehen heizt sich auf. Als sich jedoch plötzlich wieder das Scheherazade-Thema hineingedrängt, regt sich des Königs Unmut. Er fährt dazwischen und stoppt die Erzählung abrupt. Nur mit Mühe gelingt es Scheherazade, ihn wieder zum Zuhören zu bewegen. Trompeten übernehmen das Kommando, rasend klingt der Satz aus. Im nächsten Stück umgarnt die Erzählerin den König mit einer intimen Liebesgeschichte. Den „jungen Prinzen und die junge Prinzessin“ verbindet nämlich eine zärtliche Freundschaft. Dieses Mal reagiert der König schon freundlicher darauf, als Scheherazades Geige den Gang der Geschichte mit eigenen Figuren untermalt. Musikalisch hochinteressant ist, wie Rimski-Korsakov gewisse Spieltechniken des Tamburins in die Orchesterbegleitung aufnimmt und so das „arabische“ Flair unterstreicht. Noch ist der Wiederstand des Sultans jedoch nicht gebrochen. Scheherazade muss ihre ganze Kunstfertigkeit anwenden, um dem widerspenstigen König mit ihrer letzten Geschichte die Entscheidung abzuringen. Das Thema ist dieses Mal ein buntes Fest in Herzen Bagdads. Die schon bekannten Motive wirbeln durcheinander, immer turbulenter stürmt das Geschehen voran. Eine Verfolgungsjagd auf hoher See? Am Höhepunkt steht jedenfalls plötzlich wieder das mythische Meer vor uns. Das Königsthema segelt in voller Würde und wahrer Größe an uns vorüber. „Was soll nun werden?“ scheint Scheherazades Solo am Ende zu fragen. Des Königs Antwort ist zum ersten Mal nachdenklich und still. Über beide senkt sich der Vorhang.

Rimski-Korsakow hat uns in seinem Werk eine farben- und einfallsreiche Partitur ohnegleichen beschert. Die Verwendung des Violinsolos ist ein genialer Einfall im Dienste formaler Bündelung. Viele weitere Spezialeffekte zeigen den überragenden Instrumentator: die vollkommen neuartige und hochvirtuose Behandlung der Blechbläser, die Delikatesse des Holzbläsersatzes in den magischen Auftaktakkorden, eine grandiose Erweiterung der Orchesterfarbenpalette insgesamt. Diese Effekte wären für sich schon frappant genug, sie blieben aber ohne Rimskis tiefsinnige Psychologie letztlich bedeutungslos. Denn erst durch die Art und Weise, wie er diese Effekte anwendet, offenbart er die eigentliche Geschichte, die in den Herzen der beiden Hauptfiguren stattfindet. Die Erzählkunst wird zum Schlüssel zur Seele des anderen und macht ein therapeutisches Wunder möglich. Ist es in diesem Sinn zu hoch gegriffen, wenn man in „Scheherazade“ eine orientalisch verbrämte Apologie der Kunst erblicken will? Scheherazade selbst würde auf diese Frage wohl nur geheimnisvoll den Schleier heben und weise in sich hineinlächeln…